»Excellent! Annotate More!«

Die Amos Vogel Library im Österreichischen Filmmuseum

Elisabeth Streit und Tom Waibel, in: Zeitschrift für Museum und Bildung, Nr. 86/87, Berlin: LIT Verlag 2019.

Bei der titelgebenden Aufforderung handelt es sich um eine handschriftliche Bemerkung von Amos Vogel in Michael Sorkins Untersuchung zur Veränderung des öffentlichen Raums (vgl. Sorkin 1994). Sie richtet sich aller Wahrscheinlichkeit nach an den Autor dieses Hinweises, also an Amos Vogel selbst. Zahlreiche Bücher aus seiner Privatbibliothek sind mit vergleichbaren Annotaten versehen, die auf eine durchweg erstaunliche Art von Lektüre verweisen: Hier tritt ein Leser in einen zugleich intimen und obsessiven Austausch mit seinen Büchern, die er gewissenhaft, kritisch und frenetisch annotiert; hier wird in Randspalten befürwortet oder abgelehnt, begeistert aufgenommen, wütend zurückgewiesen oder schelmisch kritisiert; im Fließtext wird heftig unterstrichen oder durchgestrichen, eingekreist, hervorgehoben und markiert.

Annotation in Sorkin (1994) (Scan: ÖFM)
Amos Vogel kommentiert seine Lektüre in einer Art und Weise, die jede wissenschaftliche Erfassung seiner Bibliothek und die Suche nach adäquaten Formen ihrer Aufarbeitung vor einige methodische Herausforderungen stellt. Daher werden wir die folgenden Überlegungen einer knappen Darstellung unserer Herangehensweisen im Zuge der Erforschung und Befragung von Vogels Privatbibliothek widmen. Zu diesem Zweck haben wir uns dazu entschlossen, an dieser Stelle keine Forschungsergebnisse zu präsentieren, sondern vielmehr die generelle Forschungsidee und die allgemeine Konzeptualisierung unseres Vorhabens in Form einer Skizze des Forschungsdesigns zur Debatte zu stellen.

Dazu bedarf es zunächst eines kurz gefassten Überblicks darüber, worum es sich bei der nunmehr in Wien im Österreichischen Filmmuseum angesiedelten Privatbibliothek von Amos Vogel handelt. Es sind rund 8000 Bücher, Hefte, Pamphlete, Magazine und Zeitschriften, die wir in den letzten Jahren systematisch katalogisiert und digital erfasst haben. Dabei war unsere Katalogisierungstätigkeit nicht auf die Erfassung der üblichen bibliographischen Angaben beschränkt, sondern von Anfang an darum bemüht, ein möglichst dichtes Netz an möglichen Querverweisen zu knüpfen. Dabei ging es zunächst um die Dokumentation von Personen, die in den Büchern vorkommen, und um Filme, auf die in den Texten Bezug genommen wird. Im weiteren Verlauf der systematischen Erfassung rückte allerdings die Frage nach einem adäquaten Umgang mit Amos Vogels unzähligen Annotierungen immer mehr in den Vordergrund: Wie lässt sich das Netzwerk von handschriftlichen Kommentaren und Hervorhebungen in der Aufarbeitung sinnvoll abbilden, wie festhalten, was im Buch an welcher Stelle annotiert wurde? Wir befassen uns damit, in welcher Form, mit welcher Art von Verweisen und Querverweisen diese Annotate in Verbindung stehen, und wie diese Informationen so aufgezeichnet, systematisiert und katalogisiert werden können, dass sie für künftige Forschung fruchtbar werden.

Steven Vogel in der Amos Vogel Library
(Foto: Elisabeth Streit)
Steven Vogel, einer der beiden Söhne von Amos Vogel, stellte anlässlich seines Besuches in der Amos Vogel Library fest:
„After my father‘s death, the Austrian Filmmuseum purchased his entire library and arranged to transport it back to the city in which Amos spent the first seventeen years of his life until the Nazis and their Viennese supporters cruelly forced him and his family into exile. For the younger generation at the Filmmuseum and for me an my brother too this meant perhaps a kind of reconciliation.“
Wir sind davon überzeugt, dass die Aufarbeitung dieser Bibliothek dann eine Art von Wiedergutmachung darstellt, wenn es gelingt, diese Erinnerungsarbeit so zu konzipieren, dass sie für künftige Forschung zugänglich und nutzbar wird, und dazu beitragen kann, in der Auseinandersetzung mit dem Denken Amos Vogels neue und erhellende Bezüge und Querverbindungen herzustellen.

Dank der Umsicht und dem Weitblick der Kurator*innen der gelungenen Ausstellung Resonanz von Exil im Museum der Moderne Salzburg findet sich hier auch eine Auswahl von nahezu 500 Büchern aus den Beständen der Amos Vogel Library. Die Präsentation dieser Bände ist auf der Grundlage von fotodokumentarischen Aufnahmen der tatsächlichen Anordnung von Vogels Büchern in seiner Wohnung am Washington Place in New York nachempfunden. Bereits diese mutwillige, ja beinahe wilde Form der Anordnung ermöglicht überraschende und erstaunliche Beobachtungen. So konnte etwa anlässlich einer Kurator*innenführung festgestellt werden, dass Amos Vogel dem Leben und Werk von Sigmund Freud ein besonderes Interesse entgegen gebracht hat. Wir werden auf diese Beobachtung am Ende der vorliegenden Überlegungen zurückkommen und sie zum Ausgangspunkt für den Entwurf einer möglichen Fallstudie im Hinblick auf Vogels Annotate machen. Aber sehen wir zuvor, welchen Stellenwert Amos Vogel selbst seinen Büchern einräumt. In einem Lebenslaufinterview, das 1995 am Lincoln Center dokumentiert wurde, erklärt er:
„I did not collect films – but I collected books. Not only that, I not only collected books, I actually read them! You know, some people collect books and don’t read them. So, there’s a mystery here for me. You know, now for instance, I will hound bookstores. I will always try to be completely up-to-date, what’s available, etc. Well, my interest in the world remained very constant. I have a very active interest in what the world is, what it could or should be. I’m very involved with social issues, have been all my life. This comes more from books than films.“ (Zone 1995)
Halten wir also fest, dass einer der bedeutendsten Filmkuratoren des 20. Jahrhunderts von sich sagt, dass er sein Interesse an der Welt mehr den Büchern als den Filmen verdankt. Wir nehmen diese Aussage zum Anlass, um zu fragen, ob an der nicht zu vernachlässigenden Anzahl und Mannigfaltigkeit seiner rund 8000 Bücher eine spezifische kuratorische Herangehensweise ablesbar gemacht werden könnte, die es erlauben würde, Amos Vogels Interesse an Büchern mit seinem vergleichbaren Interesse an Filmen in Bezug zu setzen. Wie verhält sich etwa die willkürliche Aufstellung der Bücher am Washington Place zu seinen Filmprogrammen im Cinema 16, in denen einzelnen Werke fast wie zufällig durcheinander gewürfelt und aufeinander geworfen erscheinen? Verbirgt sich dahinter möglicherweise so etwas wie ein kuratorisches Prinzip? Wie sähe so ein Prinzip aus, und wie ließe es sich formulieren? Solche Überlegungen zielen auf die allgemeinere Fragestellung danach ab, wie die Konstitution von kuratorischem Wissen erfolgt, und das meint im vorliegenden Fall ein spezifisches Wissen um Film und Bild, das den Blick auf ein Wissensfeld eröffnet, das durch Vogels kuratorische Unternehmungen vermutlich erst konstitutiert wurde.

Sehen wir in Folge einige Beispiele für den besonderen Umgang, den dieser ungewöhnliche Kurator mit seinen Büchern pflegte. Hier ein Beispiel aus einer Studie zu Kritik und Ideologie in der Filmtheorie The Crisis of Political Modernism (Rodowick 1988), in dem die Ahnung einer ganz besonderen Verzweiflung aufblitzt, wie sie nur Bücherliebhaberinnen und Wissensdurstige kennen:

Annotation in Rodowick (1988) (Scan: ÖFM)
„Peirce, de Saussure (in addit[ion] to Lacan, Derrida, Brecht, Husserl etc etc etc) are now also prerequis[ites] for this book. So I have, say, five y[ea]rs of reading/study before me – befor[e] I can return to this book (at age 73 1/2)“
Das Annotat liefert nicht nur den Beweis dafür, dass Vogel, wie er im Lebenslaufinterview erklärt, tatsächlich bis zu seinem Lebensende up-to-date sein wollte; die auf den Seiten 170 und 171 eingefügte Bemerkung zeigt auch, dass seinem Wunsch nach Aktualität eine spezifische Schwierigkeit korrespondiert: die grundsätzliche Unabschließbarkeit von Lektüre und die uferlose Maßlosigkeit des Wissens münden in eine potentiell unendliche Bibliothek, die für die Endlichkeit des menschlichen Lebens (und Lesens) unerforschlich bleiben muss. Das Entzücken Vogels angesichts der diesbezüglichen Überlegungen von Jorge Luis Borges belegt seine Empfänglichkeit für diese problematische Korrespondenz.

Annotation in Borges (1981) (Scan: ÖFM)
„Delicious + Profound“, „The Genius of Borges“, annotiert Vogel auf den Seiten 96 und 97 einer Sammlung von Borges fantastischen Erzählungen und manifestiert damit auch, dass der Leser Vogel seine Wertschätzung und Zustimmung zur Lektüre durchaus nicht verschweigt. Dieser sehr persönliche Aspekt des Annotats verweist auf die Intimität seiner Auseinandersetzung mit der Lektüre, denn offensichtlich existiert für Aussagen wie diese kein anderer Adressat als der annotierende Leser selbst. Aus dieser Nähe zu Wertung, Urteil und Temperament des lesenden Kurators speist sich der besondere Schatz seiner Bibliothek, ein Reichtum, der sich zumeist in Randspalten verbirgt, in Glossen verschanzt oder quer über Buchseiten verstreut wurde. Vom Gesamtbestand der Bibliothek sind rund ein Drittel aller Bücher mit Annotaten versehen, sie reichen von graphischen Hervorhebungen, Unterstreichungen, Ausrufe- oder Fragezeichen, über Querverweise und Werturteile bis hin zu flüchtigen Bemerkungen und ausschweifenden Kommentaren, und bilden eine Vielzahl von Ausdrucksformen, die von einer stummen, fast geheimen, jedenfalls aber höchst intimen Zwiesprache zwischen Leser und Lektüre Zeugnis ablegt. Diese Plethora an Annotaten, die Vogels Privatbibliothek bereithält, bedarf intelligenter und zugleich machbarer Konzepte, um sinnvolle Beziehungen innerhalb dieser Vielfalt zu stiften und mögliche Netzwerke an Bedeutung zu knüpfen, ohne die bestehende Mannigfaltigkeit deshalb zwangsläufig zu ordnen oder zu homogenisieren.

Mit dem vorhandenen Material ließe sich vermutlich eine durchaus beachtliche Form von Hirnforschung entwickeln, mittels derer es möglich werden könnte, in das Gehirn eines Kurators einzudringen, oder besser noch, die Formierung eines werdenden Kurators zu beobachten. Allerdings ist das nicht unsere Absicht, unsere Perspektive in der Auseinandersetzung mit der Bibliothek und den Annotaten Vogels richtet sich vielmehr nach außen: Aufgrund seiner weltumspannenden Interessen, seines weltweiten Einflusses und der globalen Resonanz seines Werks zielt unsere Aufarbeitung darauf ab, eine Art von Kartographie seines Denkens und Wirkens zu bewerkstelligen. Tätigkeiten und Resonanzen manifestieren sich dabei auf vielfältige Art und Weise: Sie reichen von Bemühungen, Filmschaffenden aus der ganzen Welt eine Öffentlichkeit zu bieten, über Anstrengungen sie, wenn möglich auch persönlich nach New York zu bringen, bis hin dazu, ihnen darüber mitunter eine internationale Karriere zu ermöglichen. Das betraf Regisseure der Schwarzen Welle in Jugoslawien, europäische Autorenfilmer*innen, tschechische oder polnische Filmemacher*innen sowie Filmschaffende aus dem Trikont, aus Afrika, Asien und Lateinamerika gleichermaßen.

Die Kartographie oder das mapping, das wir anstreben, steht damit auch vor der Herausforderung, zumindest der Möglichkeit nach die gesamte (filmische) Welt mit einzubeziehen. Daher orientieren wir uns in der Konzeptualisierung an einer Art von Atlas, einem Atlas of Curatorial Knowledge, wie wir unser Vorhaben versuchsweise bezeichnen, der die Kartographie der Bibliothek und ihrer Annotate umfasst, ein mapping von Amos Vogel. 
The Atlas of Curatorial Knowledge (Design: Tom Waibel)

Zugegebenermaßen ist dieser Atlas zunächst kaum mehr als eine berauschende Idee, die Mut macht, den enormen und ausufernden Corpus an Büchern, Texten und Annotationen in einen vielschichtigen Bezug zueinander zu setzen, und dabei Hoffnung gibt, dass diesem nahezu unabschließbaren Material tatsächlich sinnvoll zu begegnen möglich sei. Der daraus resultierende Rausch beantwortet allerdings nicht die drängenden Fragen danach, wie ein solcher Atlas entwickelt und begründet werden könnte.

Gehen wir, um uns dieser Frage anzunähern, einen Schritt zurück zu dem wohl berühmtesten Atlas der jüngeren europäischen Kulturgeschichte, jenem von Aby Warburg. Selbstverständlich ist sein Mnemosyne-Atlas eine Inspirationsquelle für das gegenwärtige Unternehmen, nicht zuletzt deshalb, weil die aktuelle Problemstellung in manchen Aspekten den Fragestellungen Warburgs vergleichbar ist: Wie lassen sich unterschiedliche Materialien einander so zuordnen, dass sie die kartographische Stringenz eines Atlas konstituieren, und nicht zu einem originellen Sammelsurium von Fundstücken zerfallen oder gar zum Orakel verkommen? Da im Österreichischen Filmmuseum außer der Kinoleinwand keine Ausstellungsflächen zur Verfügung stehen, geraten wir erst gar nicht in die Versuchung, mit Vogels Bibliothek etwas nachzuahmen, was im Museum der Moderne in Salzburg im Hinblick auf sein Leben und Werk unternommen wurde. Darüber hinaus sehen wir uns vor eine andere Situation gestellt: Wohl sind wir in der Lage, graphische Bezüge zwischen unterschiedlichen Annotaten herzustellen und auf dieser Grundlage mittels diagrammatischer Verfahren Kartographien zu erstellen. Zugleich sind die kuratorischen Unternehmungen Vogels bekannt, also müsste es möglich sein, durch Bezugnahme auf die entsprechenden Fotos, Bilder und Sequenzen die erarbeiteten Kartographien zu einem veritablen Atlas weiterzuentwickeln.

Wir dürfen dabei allerdings nicht vergessen, dass diese Art von diagrammatischer Konstruktion eine physische Verfügbarkeit des Materials voraussetzt, und sei dessen Materialität noch so virtuell vermittelt, wie sie etwa André Malraux in seinen Überlegungen zum Musée Imaginaire postuliert. Die Konzeption eines potentiellen Amos Vogel Atlas ist vor eine andere Herausforderung gestellt und dieser Umstand resultiert aus einer ebenso einfachen wie verblüffenden Tatsache: Viele der Bilder, die Vogels kuratorische Vorgangsweisen perspektivisch orientiert haben, sind weder Filmstills noch fotografische Momentaufnahmen oder Sequenzen, auch keine greifbaren Gemälde oder Skulpturen, sondern vielmehr Sprachbilder, Denkbilder oder Erinnerungsbilder, also im weitesten Sinne imaginäre Bilder. Die Konstruktion von diagrammatischen Bezügen setzt eine bestimmte Art und Weise in der möglichen Verknüpfung von Bild und Idee voraus, während unsere Arbeit am Amos Vogel Atlas dagegen darauf abzielt, diese Arten und Weisen von möglichen Verknüpfungen überhaupt erst sichtbar und begreifbar zu machen. Damit verweist das vorliegende Problem auf ein grundlegendes Dilemma, demzufolge wir dazu gezwungen wären, dort Operatoren der Rationalität einzuführen, wo wir doch die Unwägbarkeiten der Kreativität vermuten. Oder um es anders zu formulieren, jene ab- und untergründigen Kräfte, die in der Konstitution von kuratorischem Wissen mitwirken.

Der Weg, den wir als möglichen Pfad abseits dieses Dilemmas zu beschreiten versuchen, wird zunächst durch eine strategische Maßnahme eröffnet: Jeder zu unternehmende methodische Schritt soll in einer Überlegung verankert werden, die sich durch Vogels Annotate ausweisen lässt. Um diese abstrakte Regel konkret werden zu lassen, schlagen wir in Catherine Belsleys Studie Critical Practice (1980) nach. Am Rande der dort reflektierten methodologischen Überlegungen hält Amos Vogel seine grundsätzliche Übereinstimmung fest. Er notiert seitlich: „My own Position“, und über dem Text, an der Stelle einer Überschrift, dominiert die wiederholte Affirmation, „My Position“, samt einem unmissverständlichen Pfeil auf seine Einverständniserklärung in der Randspalte. Eine der raren Stellen, an denen der monomanische Leser Vogel Auskunft über die methodischen Prinzipien seiner Lektüre gibt!

Annotation in Belsley (1980) (Scan: ÖFM)
Im Fließtext der entsprechenden Passage auf Seite 28 lesen wir:
„Similarly, distinct critical procedures are most fruitfully seen as contributing to a cumulative and finally comprehensive understanding, offering a series of contexts in which to place the totality of the work. Frye’s object, then, is not to exclude any critical approach, but to break down barriers between approaches“ (Belsley 1980, S. 28)
Sehen wir, in welcher Weise dies als Ausgangspunkt für die Konstruktion einer praktischen Methodologie produktiv gemacht werden kann: Dazu übersetzen wir den ersten Aspekt von Amos Vogels „own Position“, nämlich „distinct critical procedures […] contributing to cumulative and finally comprehensive understanding, offering a series of contexts“, versuchsweise in eine Reihe von exemplarischen Fallstudien, die, wenn auch nicht systematisch, so doch kumulativ und assoziativ zu einem tiefer greifenden und umfassenderen Verständnis beitragen können. Den zweiten Aspekt seiner eigenen Position, der darin besteht, „not to exclude any critical approach, but to break down barriers between approaches“, könnte in unserer praktischen Methodologie seine Entsprechung in etwas finden, das im kritischen Diskurs der Gegenwart unter dem Begriff der künstlerischen Forschung diskutiert wird, durch deren Einsatz die Barrieren zwischen unterschiedlichen Forschungstraditionen und Wissenskulturen durchkreuzt und überquert werden sollen.

Solcherart methodisch gewappnet, sind wir nun endlich in der Lage, unser eingangs formuliertes Versprechen einzulösen, den Entwurf einer möglichen Fallstudie am Beispiel von Vogels Auseinandersetzung mit den Schriften Sigmund Freuds vorzustellen. Wie bereits erwähnt, wurde im gemeinsamen Ausstellungsrundgang die Beobachtung geäußert, dass trotz (oder gerade wegen?) Vogels spezieller Bücheranordnung sein Interesse an Leben und Werk des Begründers der Psychoanalyse ins Auge springt. Welche Auskünfte finden sich nun in den Annotaten, die Aufschluss über dieses Interesse geben, und was für einen Erkenntnisgewinn könnte eine atlas-artige Kontextualisierung dieser Ergebnisse in Verbindung mit anderen Materialien mit sich bringen? Nutzen wir zur Beantwortung dieser Fragen zunächst einige Möglichkeiten, die uns die digitale Aufarbeitung der Bibliothek in die Hände gespielt hat, und beginnen wir damit, die quantifizierbare Dimension der Fragestellung zu bestimmen. Eine Schlagwortsuche ergibt 280 Bücher, die den Wissensbereichen Psychoanalyse, Psychologie oder Tiefenpsychologie zuzuordnen sind. Davon sind 140 Bände annotiert und bei 64 besteht ein expliziter Bezug zur Person Freuds, sei dieser nun Autor, Mitautor oder zentrale Referenz der betreffenden Texte. Innerhalb dieser Teilmenge von direkt mit Freud verknüpften Materialien finden sich in 38 Büchern handschriftliche Annotate. Die exemplarische Fallstudie wird sich demnach auf diese rund 13% der Publikationen konzentrieren, die Amos Vogel zum Thema gesammelt hat.

Nun ist der methodische Einsatz künstlerischer Forschung gefragt, um eine Perspektive entwickeln, von der aus die quantitativ erfasste Stichprobe in den Blick genommen werden soll. Wir schlagen vor, dass wir uns an dieser Stelle aus ästhetischen und praktischen Gründen von der topologischen Anordnung leiten lassen, die in der Salzburger Ausstellung etabliert wurde: Dem Schrank mit den besagten  Büchern ist eine Vitrine entgegen gestellt, in der sich eine kurze Notiz Vogels findet, die sich auf die Erinnerung an seine Emigration aus dem nationalsozialistischen Wien bezieht. Darin benennt er als ein Resultat von Flucht und Vertreibung einen tief empfundenen Sprachverlust: „The Nazis have stolen my mother tongue“. Diese Feststellung eröffnet einen Horizont, der es erlaubt, die Zeugnisse von Amos Vogels Beschäftigung mit Freud auch im Hinblick auf jene lebenslange Anstrengung zu befragen, die darin bestand, die gestohlene Muttersprache zurückzugewinnen, sich der in ihr verankerten Sprachbilder wieder zu erinnern, und den aus ihr entspringenden Denkfiguren nachzuspüren.

Aufgrund dieser neu gewonnenen Perspektive rückt Bruno Bettelheims kritische Untersuchung der Übertragungen von Freuds Texten in die englische Sprache ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Bettelheims Studie Freud and Man’s Soul (1984) findet sich in der bereits erhobenen Stichprobe und wurde von Vogel mit zahlreichen Annotaten versehen. In unserem Zusammenhang sind die Einträge auf Seite 50 und 51 von besonderem Interesse. Anlässlich von Bettelheims Kritik an der mangelhaften Übersetzung zentraler tiefenpsychologischer Grundbegriffe in Stracheys Standard Edition (1953-1974) hält Amos Vogel fest: „Here start the errors!“

Annotation in Bettelheim (1984) (Scan: ÖFM)
Vogels Feststellung zielt mit einem Pfeil auf eine mehrfach markierte Passage auf der gegenüberliegenden Seite, die zusätzlich durch Unterstreichung hervorgehoben wurde:
„the translations in the Standard Edition are for the most part an improvement on those in earlier editions–although many, many shortcomings remain – all discussions presented here are based on this edition […], the overwhelming majority of Americans who read Freud do not read the Standard Edition but a variety of cheaper editions that reprint the earlier, inferior translations.“
Über dieser Passage, mit erneuten verweisenden Pfeilen, hält Vogel in durchgehender Großschreibung fest:
„My little Freud Volumes are based on earliest translat[ions], not even the better later Stand[ard] Edit[ion].“
Vogel stellt alarmiert fest, dass seine bisherige Bekanntschaft mit Freud auf Übersetzungen beruht, deren Analyse Bettelheim nicht einmal in Erwägung zieht. Vogel seinerseits zieht aus der neu gewonnenen Einsicht rasche und rigorose Konsequenzen: An der Zusammensetzung seiner Bibliothek wird deutlich, dass er sich seit der Begegnung mit der Bettelheimschen Übersetzungskritik dazu entschlossen hatte, die Schriften Freuds fortan nur mehr im deutschsprachigen Original zu erwerben und zu studieren. Vogels Entschluss, der eine erneute Hinwendung zu der von den Nazis geraubten Muttersprache erfordert, bringt eine Wiederbegegnung mit Vergangenheit und Herkunft mit sich, deren Reflexion und Reichweite mitunter auch an unerwarteter Stelle fragmentarisch aufblitzt. In Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1976) findet sich etwa eine Ausführung zur sozialen Genese der Nervosität, die Vogel in seiner deutschsprachigen Taschenbuchausgabe mit der Notiz versieht: „applicable to me“. 
Annotation in Freud (1976) (Scan: ÖFM)

Die markierte Passage in Freuds Abhandlung lautet:
„Auch wird der Arzt häufig genug durch die Beobachtung nachdenklich gemacht, daß gerade die Nachkommen solcher Väter der Nervosität verfallen, die, aus einfachen und gesunden ländlichen Verhältnissen stammend, Abkömmlinge roher aber kräftiger Familien, als Eroberer in die Großstadt kommen und ihre Kinder in einem kurzen Zeitraum auf ein kulturell hohes Niveau sich erheben lassen.“
So rigoros Vogel in seiner erkenntniskritischen Konsequenz ist, so praktisch bleibt er in ihrer ökonomischen Umsetzung: Um keine intellektuellen Abstriche machen zu müssen, entscheidet er sich bedenkenlos für preiswerte Exemplare. Die Freudschen Texte im deutschen Original finden sich in seiner Bibliothek durchwegs in kostengünstigen Paperback-Ausgaben aus der Wissens-Reihe des Fischer Verlags. In seiner charakteristischen Liebe zu Büchern bleibt Vogel sein ganzes Leben hindurch auf die Auseinandersetzung mit Ideen und Inhalten fokussiert. Bibliophilie im herkömmlichen Sinn, die auf die Sammlung gediegener und kostbarer Bücher gerichtet ist, muss ihm als eine kultivierte Form von Eitelkeit erscheinen. In seiner konstanten Suche nach Lese- und Wissensstoffen wird er überall fündig: in frequentierten Buchhandlungen ebenso wie auf der Straße bei fliegenden Händlern, auf Flohmärkten oder in Basaren, und mit seinen Funden geht er in der Regel schonungslos um. Wir haben bereits in aller gebotenen Kürze zu zeigen versucht, auf welch unterschiedliche Arten Vogel Bücher und Texte aktiv befragt, kommentiert oder in Zweifel zieht, wie er darin hervorhebt, durchstreicht, zustimmt oder ablehnt. Halten wir nun generell fest, dass seine Lektüreprozesse durchwegs in Forschungsunternehmungen münden, die von einer ebenso strengen wie kritischen Überprüfung ihrer jeweiligen Relevanz für seine eigenen Lebens- und Erkenntnisinteressen gekennzeichnet sind.

Zum Abschluss der vorliegenden Skizze wollen wir kurz umreißen, wohin sich die hier entwickelte Fallstudie perspektivisch weiter bewegen könnte. Dass die Wiederaneignung der geraubten Sprache Vogel vor vielfältige Herausforderungen stellt, lassen auch die bestehenden quantitativen Verhältnisse vermuten: 85% der Bücher und Texte der Amos Vogel Library sind Englisch, rund 14% Deutsch und 1% Französisch. Zahlreiche Schenkungen und Erwerbungen in etwa einem Dutzend anderer Sprachen (Italienisch, Spanisch, Tschechisch, Rumänisch, Serbo-Kroatisch, Niederländisch, Dänisch, Japanisch, Chinesisch, etc.) machen zusammengenommen weniger als 1% des gesamten Bestandes aus. Rund ein Drittel der englischsprachigen Bücher sind annotiert; während nur etwa ein Viertel der deutschsprachigen Texte Annotate aufweisen, sind gleichwohl die Hälfte aller Materialien aus dem Wissensbereich der Psychoanalyse mit Hervorhebungen und Kommentaren versehen. Aber selbstverständlich bleiben qualitative Überlegungen für den Verlauf der Studie aufschlussreicher als Mengenverhältnisse.
Bücherverteilung nach Sprachen (Design: Tom Waibel)

Wie herausfordernd sich die Lektüre in der entwendeten Sprache darstellt, wird auch durch den Umstand illustriert, dass Vogel den überwiegenden Teil der konsultierten Sekundärliteratur in Englisch bewältigt. So liest er das Standardwerk von Ernest Jones The Life and Work of Sigmund Freud (1961) in einer gekürzten englischen Fassung und interessiert sich dabei insbesondere für eine Anekdote, die Jones aus Freuds Leben wiedergibt. Der Vorfall erzählt von einem antisemitischen Übergriff, dem sich Sigmund Freuds Vater Jakob am Ende des 19. Jahrhunderts in Wien ausgesetzt sah. Jones schildert den Effekt, den die Begebenheit auf den Sohn ausgeübt haben soll, in folgenden Worten:
„his father never regained the place he had held in his esteem after the painful occasion when he told his twelve-year-old boy how a Gentile had knocked off his new fur cap into the mud and shouted at him: ›Jew, get off the pavement.‹ To the indignant boy's question: ›And what did you do?‹ he calmly replied: ›I stepped into the gutter and picked up my cap.‹“
Jones zufolge war es aufgrund eines „lack of heroism on the part of his model man“, dass Vater Jakob angeblich nie mehr jenes Maß an Anerkennung von seinem Sohn erhalten sollte, das ihm dieser zuvor entgegen gebracht hatte.
Annotation in Jones (1961) (Scan: ÖFM)

Amos Vogel kontrastiert die Schilderung und Einschätzung des Ereignisses mit einer eigenen biographischen Erinnerung:
„My Father same Incid[ent] but I didn’t expect Heroism.“
Vogels Bemerkung bestätigt nicht nur die Präsenz von antisemitischen Übergriffen im Wien des austrofaschistischen Ständestaates, sie lässt darüber hinaus auch keinerlei Zweifel an seiner persönlichen Haltung aufkommen. Das Annotat zeigt unmissverständlich, dass ihn seine intellektuelle Auseinandersetzung mit den Ideenwelten des Bücheruniversums nicht nur als scharfen Kritiker und alerten Skeptiker ausweisen. Die vorliegende Erinnerung legt einen autobiographischen Beweis dafür vor, dass Amos Vogel als Leser, Mensch und Zeitgenosse stets bereit war, Idealisierung, Pathos und Pose mit der reflexiven Kraft widerständigen Denkens subversiv zu unterlaufen. Halten wir demnach abschließend fest, dass Vogels Wille zur Subversion für die grundlegende Untersuchung seines Spezialgebiets, der Konstruktion von kuratorischem Wissen über Film in Film as a Subversive Art (1974) nicht zufällig titelgebend wird. Eine ganz besondere Art von Subversion begleitet und bestimmt Vogels Forschungen und Handlungen ein Leben lang – und ihre Entwicklung und Artikulation lässt sich durch seinen Umgang mit Büchern, Lektüre, Wissen und Erinnerung nachvollziehbar und begreiflich machen. Die Amos Vogel Library birgt die dazu erforderlichen Materialien, und wir arbeiten daran, sie bestmöglich verfügbar zu machen.

Quellen und Literatur

Belsley, Catherine: Critical Practice. London 1980.
Bettelheim, Bruno: Freud and Man’s Soul. New York 1984.
Borges, Jorge Luis: Borges. A Reader, (hgg. v. Emir Rodriguez Monegal). New York 1981.
Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Frankfurt am Main 1976.
Jones, Ernest: The Life and Work of Sigmund Freud. New York 1961.
Malraux, André: Das imaginäre Museum. Genf 1947.
Rodowick, David N.: The Crisis of Political Modernism. Criticism and Ideology in Contemporary Film Theory. Urbana 1988.
Sorkin, Michael: Variations on a Theme Park. The New American City and the End of Public Space. New York 1994.
Strachey, James: The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud. London 1953-1974.
Vogel, Amos: Film as a Subversive Art. New York 1974.
Warburg, Aby: Mnemosyne-Atlas, siehe  https://warburg.library.cornell.edu 
Zane, Sharon: Oral History Interview with Amos Vogel. New York 1995.

Schlagworte

Exilforschung, künstlerische Forschung, Film- und Medienwissenschaft, Curatorial Knowledge, Digital Humanities.