... aber sie ist insistent. Interview mit Tom Waibel am 5. Februar 2012 in der Universität Hamburg geführt von der elektronischen Zeitung Schattenblick.
Schattenblick: Die zapatistische Bewegung hat hier zu einem Zeitpunkt, als die Linke am Niedergang war, wie ein Komet eingeschlagen. Auf einmal war da etwas wie eine Hoffnung, auch aufgrund der neuen Idee, die intellektuell ansprechende Botschaft einer revolutionären Bewegung, die als indigen, eingeboren, original verstanden wurde, über elektronische Medien zu transportieren. Das wirkte auf viele Leute wie eine Inspiration, auch wenn das zunächst einmal romantisierend aufgenommen wurde. Für einige Menschen war es jedoch Anlaß, sich näher damit zu beschäftigen. Wie war das bei dir gewesen und was hat sich seitdem verändert?
Tom Waibel: Ich bin damals in der anarchistischen Hausbesetzerszene gewesen, als überall das Ende der sozialen Bewegungen proklamiert wurde. Nach 1989 schien nichts mehr zu gehen. Dann gab es plötzlich einen Aufstand von Leuten, von denen man gar nicht gewußt hat, daß sie überhaupt existieren. Eine der großen Attraktionen dabei war, daß sie nicht nur mit Holzgewehren einen Aufstand probten, sondern sie zitierten dabei auch noch Macbeth, indem sie sagten, das ist der Wald, der sich in Bewegung setzt. Mit einemmal haben auch die Verhältnisse sprachlich zu tanzen begonnen. Alles ist wieder möglich, alles muß neu gedacht werden. Für mich war das überraschend wie faszinierend zugleich. Das wollte ich näher kennenlernen und auch wissen, was da überhaupt dran ist. Ich bin dann Ende 1994 nach Chiapas gekommen und habe für das Menschenrechtszentrum FrayBa gearbeitet, das damals zivile Friedensbeobachtung organisierte.
Für mich war das eine sehr gute
Möglichkeit, überhaupt in die Gegend zu kommen und die Verhältnisse in
den Dörfern kennenzulernen. Die Attraktion war groß, aber meine
Spanischkenntnisse so gering, daß ich nach ein paar Monaten feststellen
mußte, daß ich nichts machen konnte. Also bin ich wieder nach Hause
gefahren und habe Spanisch gelernt und mich vorbereitet, um auch länger
zu bleiben. Denn mir war klargeworden, daß die indigenen Bevölkerungen
ein seltsames oder eigenwilliges Verständnis von Zeit besitzen. So
haben die Leute gesagt, wir waren 500 Jahre unterdrückt, wir müssen
nicht in fünf Wochen, fünf Monaten oder fünf Jahren unsere Befreiung
erleben.
Das waren ganz wesentliche Verschiebungen, die bei mir
dazu geführt haben, daß ich 1998 wieder nach Mexiko, diesmal ohne
Rückflugticket, geflogen bin, um zu sehen, ob ich etwas machen kann und
ob das überhaupt erwünscht ist. Der Anfang war schwer, aber ich bin
dann doch fast ein Jahrzehnt geblieben. Romantik war natürlich auch mit
im Spiel, aber die bin ich sehr schnell losgeworden, weil es da keine
solchen Indianer gibt, wie man sie aus Hollywoodfilmen kennt. Es hüpft
niemand im Federbusch herum. Auch trifft man keine Gesellschaft
jenseits des Kapitalismus an, obwohl die meisten Subsistenzbauern sind.
Ihre Söhne, Töchter oder sie selber verdingen sich als Lohnarbeiter in
der Stadt oder verkaufen ihre Produkte. Es gibt dort keine
Ursprünglichkeit oder Reinheit, aber das ist sogar ein wesentlicher
Punkt für das Funktionieren der zapatistischen Bewegung. Sie haben sich
niemals auf Authentizität berufen oder gesagt, wir sind indigen und
daher so oder so, sondern sie haben immer auf die Anerkennung der
Differenz gepocht. Auf diese Weise haben sie sich nie dagegen gesperrt,
viele Strategien zu entwickeln, um nicht in dieses Spiel mit der
Identität zu geraten. Stets ging es um die Nicht-Identität. Wir sind
alle Marcos. Wir haben alle Skimützen und sind unkenntlich. Wir sind
nicht diejenigen, die ihr glaubt, die wir sind, sondern immer woanders.
Das war sehr effizient und auch praktisch. Angesichts dessen mußte ich
mich fragen: Wer bin ich eigentlich? Was tue ich da? Warum tue ich
das? Und dann war da diese sehr uneuphorische Haltung der Zapatisten
mir gegenüber, als sie wissen wollten, ob ich dort nichts zu tun hätte,
wo ich herkomme. Wir machen hier regionale Autonomie, sagten sie, mach
das doch bei dir zu Hause, wo du dich besser auskennst und Freunde und
Ressourcen hast. Auch diese schroffe Ablehnung, die nichts mit Hurra
und Willkommen zu tun hatte nach dem Motto, wir sind alles
Internationalisten und werden überall auf der Welt gebraucht, hat viel
von meinem überheblichen Selbstverständnis in Frage gestellt.
SB: Waren es viele Europäer, die wie du die zapatistische Bewegung kennenlernen wollten?
TW:
Es gab so viele, daß sich die EZLN genau überlegen mußte, was sie mit
den Leuten macht. Aufgrund der Analyse und Erfahrungen der Sandinisten
hat sie beschlossen, die Leute, die von Übersee oder als
Internationalisten kommen, im Unterschied zu den Soli-Brigaden der
Sandinisten, die Schulen oder kommunale Netzwerke aufgebaut haben, nicht
an konkreten Arbeiten und Projekten zu beteiligen. Statt dessen ist
man davon ausgegangen und hat dies auch bis heute beibehalten, daß die
Leute die militärischen Bewegungen dokumentieren. So funktioniert man
in vielen Fällen auch als legales Schutzschild, weil die Präsenz von
internationalen Beobachtern diesen rechtsfreien Raum, in dem das Militär
so gerne agiert, sichtbar macht. Das ist einerseits eine sehr schwere
Schule, weil man in den Dörfern per Dekret nichts machen darf außer zu
schauen. Denn Arbeit ist eine der besten Formen, um mit Leuten in
Kontakt zu kommen. Andererseits zwingt einen das dazu, kreativ und
innovativ zu sein und neue, unbekannte und bisher noch nicht für sich
entdeckte Formen des Umgangs mit anderen zu entwickeln.
SB: Wie ging das bei dir weiter?
TW:
Ich war auch einer dieser Verrückten, die mit einem Plan im Kopf
hingefahren sind. Auch ich habe mir eingebildet, schon zu wissen, was
ich dazu brauchen werde. Bei mir war das, nachdem ich schon vorher
einmal da war, vielleicht ein bißchen durchdachter als der erste
Antrieb, etwas tun zu wollen. So habe ich feststellen können, daß die
Selbstwahrnehmung und die Art, wie die Zapatisten von den
Internationalisten und anderen Leuten gesehen werden, enorm
auseinanderklafft. Daher habe ich mir das bescheidene Ziel gesteckt, so
etwas wie ein Wanderkino zu machen, um den Leuten die Dokumentationen
über sie und damit das Bild, das man im Ausland von ihnen hat, zu
präsentieren und erst dann in der Folge herauszufinden, inwieweit sie
selber daran interessiert sind, dieses Bild von sich zu verändern.
Natürlich gab es vor Ort schon Medienkollektive und auch innerhalb der
zapatistischen Bewegung war man über ein kommunitäres Radio um den
Aufbau autonomer Schulbildung bemüht. So paßte meine Idee gut in dieses
Netzwerk hinein. Nur kann man sich das nicht so vorstellen, daß man
einfach hingeht und die Filmdokumentationen übersetzt. Konkret hat das
vielmehr so ausgesehen, daß ich fast ein ganzes Jahr lang auf Workshops
eingeladen wurde, aber grundsätzlich nur beobachten konnte, wie ich
lebe, was ich esse und wie ich mich benehme. Ich war vor die schwierige
Aufgabe gestellt zu legitimieren, wie ich meinen Unterhalt überhaupt
verdiene. Nichts ist verdächtiger als ein Internationalist, der sein
Leben auf ein halbes Jahr finanzieren kann. Die Leute fragen sich dann,
wer steht hinter ihm. Also habe ich alle möglichen Arbeiten gemacht,
die auch die Leute dort machen. Das hat allmählich und mit großer
Zögerlichkeit dazu geführt, daß Zuversicht entstehen und Vertrauen
aufgebaut werden konnte. Wenn das einmal gelingt, geht alles sehr
schnell, dann ist es so, als wäre alles schon ausgemacht gewesen.
SB: Wie haben die Leute die Sache mit dem Wanderkino aufgenommen, war man hellauf begeistert oder hielten sie dich für naiv?
TW:
Das ist sehr differenziert zu bewerten. Mein Anspruch bestand durchaus
darin, ein Wanderkino für alle Dörfer zu machen, unterschiedslos, ob
es nun zapatistische oder nicht-zapatistische Dörfer sind. Das war sehr
problematisch, nicht für die Zapatisten, aber den anderen
Internationalisten gegenüber, denn ich kam sofort in den Verruf, ein
Separatist zu sein. Wieso zu den anderen Bauern fahren? Es hat viele
Jahre gebraucht, bis sich das Mißtrauen endlich gelegt hat und auch
andere Organisationen darauf gekommen sind, daß diese klare
Trennungslinie zwischen einem zapatistischen und einem
nicht-zapatistischen Dorf gar nicht zu ziehen ist, sondern es gab immer
auch Einsprengsel von zapatistischen Leuten in Dörfern, die
mehrheitlich regierungstreu waren. Mir ging es im wesentlichen um eine
Gegenstrategie zur Aufstandsbekämpfung der Regierung, die auch kommunal
angenommen wird. Kino ist nicht nur Information, sondern auch eine
Form von Ausnahmezustand. Wir sind in Dörfer gekommen, in denen es
keinen Strom gab, wo die Leute noch nie ferngesehen hatten und
überhaupt kein Kino kannten. Es wurde ein riesiges Spektakel und die
Leute wollten dann in aller Regel nicht mehr schlafengehen. Für mich
war diese Zeit sehr anstrengend, denn ich mußte am nächsten Tag
weiterziehen. Die meisten nicht-zapatistischen Organisationen, die
solidarisch ausgerichtet waren, hatten mit mir ausgemacht, daß das Kino
etwas kosten müsse. Denn das einzige, was es für arme Leute gratis
gibt, ist die Infiltration. Wenn ein Kino kostenlos ist, dann glauben
die Leute, du bist bei einer Partei oder, was sie auch nicht wollen,
machst Werbung für die Zapatisten. Wenn ein Film etwas kostet, hast du
ein Interesse zu kommen, denn du verdienst dir deinen Lebensunterhalt
damit. Es gab ein ganz genaues Kalkül von Gegenseitigkeit: Was gibst du
und was verlangst du dafür? Natürlich habe ich nur wenig genommen. Ein
Peso pro erwachsene Person, aber die Hälfte der Anwesenden war ohnehin
unter 14 Jahre. Das füllte die Räume, aber meistens zeigten wir den
Film unter freiem Himmel. Die Zapatisten waren gegen diese Regelung.
Ihr Leitspruch war: Nichts kostet etwas. Bei ihnen bestand der Deal
darin, daß ich immer von Zapatisten begleitet wurde, aber in den
Dörfern Unterkunft und Verpflegung bekam und die Transportmöglichkeiten
für mich organisiert wurden. Auch da gab es einen gegenseitigen
Austausch, nur funktionierte dieser auf geldfreier Basis. Insofern muß
man also differenzieren, aber generell war das faszinierend für mich
genauso wie für die Leute, die in vielen Fällen zum ersten Mal mit Kino
in Berührung gekommen sind.
SB: Welche Erfahrung hast du mit der
Aufstandsbekämpfung gemacht und wie verhielten sich der kämpfende und
der zivile Flügel der Zapatisten zueinander?
TW: Zunächst einmal
muß man sagen, daß die Aufstandsbekämpfung seit 1996 verstärkt worden
ist. 1997 war das Massaker von Acteal. 1998, als ich gerade hingekommen
bin, wurden ganz massiv Morde begangen, die aber keine internationale
Resonanz hervorriefen, aber 20 oder 30 Leute aus einer Dorfbevölkerung
das Leben gekostet haben. Die Leichen wurden, eingeschweißt in
Blechsärge, wieder zurückgebracht. Verantwortlich dafür waren die
Paramilitärs, deren Verbindung zum offiziellen Heer ganz offensichtlich
war. Die haben mit Waffen im Eigentum der Bundesarmee geschossen. Auf
den Projektilen waren noch Markierungen drauf. Zum Teil trugen sie
sogar Uniformen der regulären Bundesarmee. Ein Blinder hätte sehen
können, daß die Paramilitärs für die Aufstandsbekämpfung von den
Militärs ausgerüstet und organisiert wurden. Für die zapatistische
Bewegung hatte das weitreichende Folgen. So wurden zwischen 1997 und
1998 die Regelungen verändert. In den vorangegangenen zehn Jahren der
klandestinen Vorbereitung bis zum öffentlichen Auftritt und der
Konstitution als anerkannte kriegführende Macht waren die Leute
aufgefordert worden, sich an vielen sozialen Organisationen zu
beteiligen und heimlich Zapatisten zu sein. Das war ein Spezifikum auch
anderer armer indigener Gegenden, galt aber insbesondere für Chiapas,
wo es seit langer Zeit einen hohen Organisationsgrad gibt. Es ist
üblich, daß Leute in drei oder vier unterschiedlichen Organisationen
involviert sind. Die eine besorgt den Austausch von Waren, die nächste
kümmert sich um das Verteilen von Handwerkszeug, die dritte ist eine
religiöse Gruppierung und die vierte arbeitet an einer indigenen
Gesetzgebung. Die Leute konnten sich über die vielen Organisationen
auch legitimieren.
Nach dem Massaker von Acteal und in der Folge
davon hat sich diese Politik verändert. Die Zapatisten haben gesagt,
entweder bist du Zapatist oder du bist es nicht. Bist du für uns, mußt
du die Mitgliedschaften in anderen Organisationen aufkündigen. Das war
eine Sicherheitsmaßnahme gegen die Aufstandsbekämpfung. Allerdings
brachte dies ein riesiges Problem für die Organisation der autonomen
Bildung mit sich, weil oftmals indigene Lehrer, die ein minimales
Gehalt vom Staat bekommen haben, aber in ihrer Freizeit in jahrelanger
Anstrengung auch indigene Bildung mit Sprachkenntnissen in den Dörfern
förderten, plötzlich nicht mehr bezahlt wurden, sofern sie nicht im
Regierungsauftrag arbeiteten. So wurden sie vor die Wahl gestellt,
entweder den Job bei der Regierung zu kündigen und ganz zu den
Zapatisten zu gehen oder draußen zu bleiben. Viele Leute konnten sich
das ökonomisch einfach nicht leisten. Da gingen die Bruchlinien nicht
durch die Frage, ob man solidarisch ist oder nicht, sondern man mußte
sich der existentiellen Not stellen: Ich lebe in einer Gegend, die von
Paramilitärs durchsetzt ist. Entweder ziehe ich in autonome Gebiete,
aber da besitze ich kein Land. Und was tue ich mit dem, was ich hier
aufgebe? Das waren sehr komplexe Fragen, mit denen man sich
auseinandersetzen mußte, als die Zapatisten ihr Vorgehen veränderten.
Man
ist vorsichtiger geworden, aber auch argwöhnischer. Wir hatten ein
lokales Radio in Zusammenarbeit mit einer Organisation von
Kaffee-Produzentinnen betrieben, die 1994 mit den Zapatisten gemeinsam
Ländereien besetzt hatten und wo es große personelle Überschneidungen
gab, aber sich ab den nuller Jahren plötzlich eingebildet haben, daß es
für sie lukrativer ist, mit der Regierung gemeinsame Sache zu machen.
Ab diesem Zeitpunkt waren sie effiziente Agenten der
Aufstandsbekämpfung, denn sie kannten die innere Organisation sehr gut.
Das ist auch das Perfide an den paramilitärischen Maßnahmen, daß Leute
abgeworben werden oder sich aus irgendwelchen Gründen korrumpieren
lassen. In dem konkreten Fall hat es dazu geführt, daß wir dieses
Gebiet rasch verlassen mußten und so Radio und Antenne nicht mehr
mitnehmen konnten. Das hat uns viel Häme eingebracht, denn es hat dann
geheißen, daß wir die Aufstandsbekämpfung mit dem Radio unterstützt
hätten. Tatsächlich war es schmerzhaft, auf diese Weise Lehrgeld zu
bezahlen, denn die Arbeit hat sich im Anschluß fast ausschließlich auf
zapatistische Organisationen und Gebiete fokussiert. Das war
ursprünglich nicht die Intention, aber Folge der Aufstandsbekämpfung
gewesen. Die Leute waren also gezwungen, sich zu entscheiden, auf
welcher Seite sie stehen.
SB: Hat sich im Zuge des sogenannten
Antidrogenkriegs etwas für die zapatistische Bewegung verändert, zumal
die Amerikaner die mexikanischen Streitkräfte im Kampf gegen die
Drogenkartelle mit Drohnenflügen und militärischer Ausrüstung
verstärkten? Schließlich sind in Mexiko mehr Tote zu beklagen als im
Irak und Afghanistan.
TW: Überraschenderweise gilt das nicht für
das zapatistische Gebiet, aber ansonsten ist fast das gesamte
mexikanische Bundesgebiet betroffen. Allerdings haben die Zapatisten
von Anfang an sehr strenge Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um nicht den
Ruf als Drogenhändler umgehängt zu bekommen. Natürlich war das eine
beliebte Aufstandsbekämpfungsstrategie ab 1994 zu sagen, ihr habt
Waffen, weil ihr Drogen produziert. Ihr seid ja arme Bauern, wie kommt
ihr sonst zu Waffen. Schon in der klandestinen Phase gab es strenge
Regelungen gegen alle Arten von Drogen, vom Schnaps angefangen bis zu
den illegalisierten Drogen, die verboten, verpönt und mit drakonischen
Strafen versehen waren, auch wenn sie in autonomen Gebieten von
Nicht-Zapatisten konsumiert wurden. Diese über ein Jahrzehnt
angewendete Praxis hat in den zapatistischen Gebieten verhindert, die
Zapatisten ab 2006, 2007, als der Drogenkrieg in Mexiko begann, in
Verruf zu bringen. Die waren schon zu gut organisiert und hatten als
moralische Instanz klargemacht, daß sie notfalls auch bewaffnet gegen
Drogenhändler vorgehen würden. Natürlich umfaßt das autonome oder
zapatistische Gebiet nicht ganz Chiapas und tatsächlich herrscht die
Tendenz vor, daß die Drogenkartelle einen Teil ihrer Aktivitäten im
Drogenhandel von Chiapas nach Guatemala verlagern. Die guatemaltekische
Regierung hatte die UNO im letzten Jahr gebeten, Blauhelme zu
schicken, weil die Banden der Drogenhändler der nationalen
guatemaltekischen Armee überlegen sind. Der Konflikt in Mexiko betrifft
also generell das ganze Gebiet, aber mit deutlichen Unterschieden. So
gibt es auch autonome Gebiete, in denen eine kommunitär organisierte
Polizei in Zusammenarbeit mit den Dörfern und ihren in Autonomie
ergriffenen Maßnahmen den Drogenhändlern die Drogen abnimmt, um so die
externen Polizeikräfte aus dem Gebiet herauszuhalten. Diese Maßnahmen
haben viel mit dem zapatistischen Vorbild zu tun, auch wenn sie nicht
in einem nationalen Maßstab greifen. Man kann da nicht allzu
optimistisch sein, aber es sind konkret praktizierte Alternativen, die
in manchen Regionen, vor allem im Süden und Südosten Mexikos,
existieren, aber auf den Norden des Landes kaum übertragbar sind.
SB:
Es gab Phasen, in denen die Zapatisten bei Parlaments- und
Präsidentenwahlen durchaus Einfluß genommen haben wie zum Beispiel mit
dem berühmten Marsch auf die Hauptstadt, der auch in westlichen Medien
frequentiert wurde. Wie steht es heutzutage mit dem Verhältnis der
Zapatisten zur Bundespolitik in Mexiko?
TW: Das hat sich radikal
geändert. Der Wendepunkt war dieser Marsch auf die Hauptstadt und der
Auftritt im Parlament, was tatsächlich nur auf Grund massiven
öffentlichen Drucks möglich war. Der darauf folgende Gesetzesvorschlag
hat allerdings zu keinem Konsens oder einer Verhandlungsposition,
sondern zum radikalen Gegenteil dessen geführt, was da eingefordert
wurde. Damit haben sich hinter dieser Art von politischem Kampf die
Türen geschlossen. Ohne daß die Zapatisten es gewollt oder intendiert
hätten, hat die Regierungsreaktion das Ende einer fast ein Jahrzehnt
andauernden bestimmten Form der politischen Stellungnahme und
Intervention besiegelt. Es war klar, daß sie in dieser Hinsicht nicht
mehr erreichen können als den symbolischen Sieg, im Parlament zu
sprechen, also den Parlamentssessel zu besetzen, ohne die Staatsmacht
erobert zu haben. Nur daß der Effekt keine Veränderung mit sich
gebracht hat, sondern eher eine Verschlechterung. So wurde diese Art
von politischer Einflußnahme nach 2001 auch nicht mehr unternommen, man
veränderte vielmehr die Ausrichtung radikal hin zu einer
Konstituierung von regionaler Autonomie und Räterepubliken. Es ist der
zapatistischen Bewegung etwas gelungen, das meines Wissens bisher keine
bewaffnete Bewegung geschafft hat, nämlich daß der bewaffnete Arm einer
sozialen Bewegung Teile seiner Macht zugunsten der Zivilbevölkerung
abgibt. Das sind Prozesse, die sonst oft auf Zwang oder aufgrund von
Friedensverhandlungen angestrebt werden. In diesem Fall hatten es die
Zapatisten aus eigener Überlegung heraus getan. Die Jahre von 2001 bis
2005 waren davon geprägt, die Regionalautonomie in die Hände der
Zivilbevölkerung zu legen, weg von den militärischen Beauftragten und
ausgebildeten Kadern. Das sind natürlich politische Strategien, die auf
etwas ganz Konkretes abzielten. Der Beschluß, daß wir niemanden mehr um
Erlaubnis fragen und auch nicht darüber verhandeln, weil wir alles
versucht haben, was möglich war, jetzt aber keine Notwendigkeit mehr
dazu sehen, markiert eine radikale Veränderung.
SB: Könnte die
Dauerhaftigkeit der Bewegung von der vergleichsweise geringen
Angreifbarkeit herrühren, denn als Außenstehender fragt man sich
unvermittelt, wie diese Lebensweise trotz aller Anfeindungen und
Angriffe immer noch bestehen kann? Woher nimmt sie ihre innere Stärke?
TW:
Diese Stärke hat viel mit den jahrhundertelangen Resistenzen der
indigenen Bevölkerung zu tun. Das sind in den meisten Fällen freie
Subsistenzbauern, denen es nicht an Nahrungsmitteln fehlt, aber
jahrhundertelang an Land gemangelt hat. Sie haben seit 1994
beträchtliche Gebiete erobert und besetzt, so daß es momentan keinen
großen Mangel an Land gibt. Sie sind in der Lage, das Land urbar und
produktiv zu machen. Das gibt ihnen eine ökonomische Unabhängigkeit, die
nicht vollständig ist und zu 100 Prozent funktioniert, aber sie
garantiert den größten Teil ihres sozialen Lebens. Das macht die Leute
selbstsicher und verhilft ihnen zu Lebensentwürfen, in denen sie den
Standpunkt formulieren können, die Armut kenne ich und sie erschreckt
mich nicht, aber ich ziehe die Armut der Unfreiheit vor. Hinzu kommt ein
Maß an Geübtheit in Armut, das mich als eingefleischten Mitteleuropäer
wirklich verblüfft hat. Wie ist es möglich, unter solchen Bedingungen
noch dermaßen kreativ, fröhlich und unbeschwert Politik zu machen? Das
waren tiefgreifende Lehren und Erfahrungen für mich.
SB: Gibt es wesentliche Unterschiede in den zapatistischen Dorfgemeinschaften hinsichtlich der Produktionsweise?
TW:
Ja. Es gibt auch in anderen indigenen Dörfern Traditionen kommunaler
Bewirtschaftung. Das war schließlich einer der Gründe für den Aufstand
1994, als mit dem Inkrafttreten des Freihandelsvertrages zwischen den
USA, Kanada und Mexiko ein gesetzliches Konstrukt, das über fast ein
Jahrhundert den sozialen Frieden in Mexiko garantiert hatte, hinfällig
wurde, nämlich das Gemeindeland. Die Bundesverfassung regelte, wieviel
Land einer Kommune oder Gemeinschaft zugeteilt wurde. Dort wurden dann
die Nutzungsrechte intern verhandelt. Der gesetzliche Schutz dieses
Landes ist aufgehoben worden. Dieses Gemeindeland gibt es auch in vielen
anderen indigenen Gemeinschaften, aber was die Zapatisten im
wesentlichen angestoßen haben und wofür sie immer noch ein wesentlicher
Referenzpunkt sind, ist die rigorose Untersuchung, was an den
Traditionen brauchbar ist und was über den Haufen geworfen werden kann.
Die zapatistischen Frauen waren die ersten, die gesagt haben, den
ganzen patriarchalen Müll, der sich in der indigenen Tradition
angesammelt hat, wollen wir nicht mehr. Es gibt überhaupt keine
Veranlassung, es wertzuschätzen, nur weil es althergebracht ist. Das
ist ein völlig neues Vorgehen und so verwundert es nicht, daß die
Zapatisten im mexikanischen indigenen Nationalkongreß auch eine
bedeutende Rolle in der Frage der Neubedeutung der Tradition spielen.
Insofern beziehen sich die Zapatisten natürlich nicht nur auf ein
bestimmtes kulturelles Erbe.
SB: John Holloway, der als Aktivist
selber vor Ort war, hat die Rezeption der Zapatisten in Europa in
starkem Maße bekanntgemacht. Wie würdest du seine theoretische
Ausarbeitung im Verhältnis zur politischen Realität der Zapatisten
bewerten?
TW: Was John Holloway ausgezeichnet gemacht hat und
wofür ich ihm sehr dankbar bin, ist, die Praxis der Dörfer in einem
sehr hohen Maße wiederzugeben. Allerdings hat er es in eine Sprache
übersetzt, die in den Dörfern nicht verstanden werden würde oder nur
von wenigen Intellektuellen, die auch Lehrer sind und andere
weiterbilden, aber nicht die breite Masse erreichen. Das heißt nicht,
daß das eine Verfälschung oder Lüge ist, sondern eben die Übersetzung
in eine andere Sprache. Das ist, so glaube ich, eine der wesentlichen
Leistungen von John Holloway, daß er es tatsächlich geschafft hat,
Konzepte von absurder Intervention der Politik in einer Sprache
begreiflich zu machen, die in vielen Fällen Anknüpfungspunkte mit der
Sprache hat, die die Linken gelernt haben und kennen. Wenn man mit
Leuten aus der zapatistischen Unterstützungsbasis spricht und sie
fragt, wollt ihr einen Sozialismus gestalten, dann erwidern sie darauf,
mit dem Sozialismus haben wir nichts zu tun. Was sollen wir damit?
Wenn man dann aber ins Detail geht und konkrete Schritte und Maßnahmen
bespricht, dann tauchen sehr viele Übereinstimmungen auf. Ach, das ist
Sozialismus?, sagen sie dann. Das wollen wir natürlich. Darin sehe ich
die große Übersetzungsleistung von Holloway.
SB: Holloway
zitiert sehr gerne den Leitsatz der Zapatisten, fragend schreiten wir
voran. Hast du den Eindruck, daß seine zum Teil elaborierte Theorie
eine Rückübersetzung auf das zapatistische Element der Nicht-Identität
und des kollektiven Auftretens in Masken ermöglicht?
TW:
Unbedingt. Das trifft sich in vielen Alltagspraktiken, wie in der Frage
nach der religiösen Identität, um ein Beispiel zu nennen, weil die
Zapatisten oft für europäische Linke darüber unangenehm aufgefallen
sind, daß sie die Jungfrau Maria mit sich herumtragen und lauter Dinge
machen, die sich als Linke wirklich nicht gehören. Für die Zapatisten
gibt es diese Ausschließlichkeit nicht, nur dies oder jenes zu sein. Es
steht dir frei, zu sein, was du willst. Das Pochen auf Differenz ist
eine alltägliche Notwendigkeit, die viel mit der inneren
Strukturiertheit zu tun hat. Schließlich handelt es sich nicht um eine
homogene indigene Bevölkerung. Im Kern sind es vier Ethnien mit
unterschiedlichen Sprachen und Geschichten. Es berührt die elementare
Alltagserfahrung dieser Leute, wie man mit der Differenz umgeht.
Innerhalb der zapatistischen Bewegung gilt für alle Milizionäre,
Spanisch zu lernen. Spanisch ist die Umgangssprache, also die
Neubedeutung einer eigentlich hegemonialen Kolonialsprache, die man sich
aber als Verständigungswerkzeug aneignet. Natürlich wird es auch
unterstützt, andere indigene Sprachen zu lernen. Das ist ein
Bildungsziel. Aber das wird nicht homogenisiert in dem Sinne, wir, die
Indigenen, müssen die indigenen Sprachen lernen. Das können wir, wenn
wir es wollen, aber es ist nicht die identitäre Homogenisierung, die uns
zu Zapatisten macht. Da gibt es jede Menge konkreter Lebens- und
Alltagspraktiken, die das unterstützen.
So verhält es sich auch
mit dem Leitsatz, fragend schreiten wir voran. Tatsächlich ist das ein
Slogan, der erst ab 1996 oder 1998 aufgekommen ist, den es aber in der
zapatistischen Praxis seit Anbeginn gibt. Das ist ein oft nicht
genügend wertgeschätztes Detail, daß der erste Befehl des
zapatistischen Heers 1994 nicht etwa hieß, "die Macht ausüben, ohne den
Staat zu erobern", wie John Holloway behauptet, sondern der erste
Marschbefehl für das zapatistische Heer lautete: "Wir nehmen eine Stadt
nach der anderen ein, bis wir nach Mexiko City kommen und das ganze
Land erobert haben." Da startete man mit dem klassisch
leninistisch-maoistischen Konzept vom langen Marsch ins Zentrum, um die
Macht neu zu strukturieren. Der Ausspruch wurde unterwegs über
Rückbefragungen zu zapatistischen Unterstützungsbasen verändert, weil
ihr Aufstand ein großes öffentliches Interesse erregte, mit dem sie
nicht gerechnet hatten. Das Heer ist nicht angetreten, um die neueste
Propagandamaschine zu erfinden, sondern um ihre Rechte einzufordern. Die
waren selber überrascht, was für eine Lawine an internationaler und
nationaler Solidarität sie losgetreten haben. Das hat dann zu diesen
Veränderungen geführt. Damit wird eine konkrete politische Praxis
beschrieben und nicht die schöne Theoretisierung von etwas, das sich
vielleicht zufällig oder in Spuren so ereignet hat, Nein, das
verdeutlicht durchaus das Bewegungselement für das Funktionieren des
Zapatismus.
SB: Hast du den Eindruck, daß die Organisations- und
Lebensformen, die du hier auf der kurdischen Konferenz vermittelst, auf
Interesse stoßen und Menschen vielleicht dazu anregt, über Dinge neu
nachzudenken?
TW: Ja, und auch zu meinem eigenen Erstaunen, denn
die große Welle der Sympathie ist natürlich abgeflaut. Wir sind nicht
mehr in den 90er Jahren, wo der größte Teil der politischen
Sozialisation über das Wissen oder die Referenz zu den Zapatisten
erfolgt war. Heute engagieren sich die Leute beim World Social Forum
und wissen gar nicht, daß die Slogans, die sie benutzen, von den
Zapatisten erfunden worden sind. Auf diese Weise kommt es zu einer
großen Aktualität dieser Ideen. Wenn Leute zum ersten Mal damit in
Berührung kommen, erleben sie Momente von Elektrisierung. Allerdings
will ich auch nicht verschweigen, daß wir in wirklich schwierigen
Zeiten sind, insbesondere durch den sogenannten Drogenkrieg in Mexiko.
Ich sage deshalb "sogenannter Drogenkrieg", weil es im Grunde genommen
ein Bürgerkrieg und nicht so sehr ein Drogenkrieg ist. Es ist ja nicht
so, daß die Regierung gegen die Drogenhändler vorgeht, sondern die
Regierung ist Teil einer kriegführenden Partei in dieser Gemengelage
aus Drogenbanden, Paramilitärs und Leuten, die um ihre Machtpfründe
verhandeln. Das ist eine waschechte Bürgerkriegssituation. Das
staatliche Machtmonopol wird gar nicht mehr in Frage gestellt. Das ist
obsolet. Das offizielle Militär ist eine von fünf, vielleicht sechs
kriegführenden Parteien und noch nicht einmal die stärkste. Das hat
enorme soziale Folgen, weil die gesamte Bevölkerung darin verwickelt
ist. Da gibt es keine Trennung zwischen denen, die im Drogenhandel
involviert sind, und jenen, die nichts damit zu tun haben. Die
Konsequenz ist jedenfalls, daß über 250.000 Militärs nicht in ihren
Kasernen sind, sondern in den Dörfern herumlungern, unglaublich schlecht
bezahlt sind und sich ihr Geld ständig auf eigene Faust
erwirtschaften, wie zum Beispiel Migranten aus Mittel- und Südamerika,
die durch Mexiko in die USA gelangen wollen, entführen und erpressen.
Den Ärmsten der Armen wird noch das Wenige weggenommen, was sie haben,
und dann enden sie in Massengräbern. Das hat mit Drogenkonflikten
überhaupt nichts zu tun, sondern das ist eine soziale Eskalation, ein
postkapitalistischer Bürgerkrieg, könnte man sagen.
In einer
solchen Situation haben es natürlich alle sozialen Gruppierungen
schwer, insbesondere eine bewaffnete Bewegung, die ihre Waffen nicht
einsetzt. Viele Leute schlagen die Hände über den Kopf zusammen und
sagen, wenn ihr Waffen habt, dann benutzt sie doch wenigstens. Das muß
man den Zapatisten allerdings hoch anrechnen, daß sie nach wie vor dazu
stehen, daß die Waffe nicht das letzte Argument ist. Die Waffe ist ein
Mittel zur Unterstützung eines politischen Arguments. Es macht jedoch
keinen Sinn, als eine weitere kriegführende Partei in diesem Szenario
aufzutreten. Diese Stimme spricht leise, aber sie ist insistent und
immer noch vorhanden und bringt trotz aller widrigen Umstände auch
Modelle hervor, die, das muß man allerdings einräumen, insbesondere in
Mexiko nicht mehr diese große Strahlkraft besitzen.
SB: Besteht
seitens der Mexikaner die Befürchtung, daß es im Rahmen dieser failed
state-Doktrin irgendwann zu einer Intervention durch die USA kommt, die
militärisch eingreifen, um einen gescheiterten Staat vor ihrer Haustür
wieder auf die Beine zu stellen?
TW: Es gibt diese Angst, aber
ich würde sagen, sie ist naiv. Die Intervention ist schließlich längst
im Gange. Sie hat nicht den Charakter einer großen Militärintervention
oder militärischen Besetzung, sondern nimmt in den letzten Jahren
dadurch Gestalt an, daß die US-amerikanische Behörde für Drogen und
Waffen Tausende von Waffen nach Mexiko geschleust hat, unter dem
Vorwand, den Weg der Waffen verfolgen zu wollen, um so die Netzwerke
der Drogenhändler aufzudecken. In Wirklichkeit sind die Waffen für die
Amerikaner spurlos verschwunden. Inzwischen weiß man, daß 90 Prozent
aller Waffen, die in Mexiko zum Krieg verwendet werden, aus den USA
stammen. Auf diese Art von Intervention braucht man nicht zu warten, es
gibt sie längst schon. Das hat sehr gefährliche Ausmaße angenommen,
vor allem, weil es immer noch Leute gibt, die von einer drohenden
Intervention sprechen. Auf diese Weise verschließt man die Augen vor
den realen Zuständen, in denen sich das Land befindet.
SB: Tom Waibel, wir bedanken uns für dieses ausführliche Gespräch.